„Der Ort ist tatsächlich sehr viel älter als bislang gedacht“ war Anfang des Jahres in einem HiAZ-Artikel über Himmelsthür zu lesen. Darin wurde über die Skelettfunde bei Erdarbeiten auf dem Bernwardshof im Jahr 2020 berichtet. Deren Untersuchung hatte in der Zwischenzeit ergeben, dass Menschen in unserem Ort möglicherweise schon im 8. oder 9. Jh. gelebt haben, mit Sicherheit aber vor dem Jahr 1022, auf dem die diesjährige 1000-Jahr-Feier beruht.
Hätten wir die Feierlichkeiten also absagen sollen?
Natürlich nicht! Dass Menschen in Himmelsthür und näherer Umgebung schon vor 1022 gelebt haben, war auch vor den jüngsten Funden auf dem Bernwardshof schon durch andere archäologische Zeugnisse klar. Ortsjubiläen orientieren sich dagegen bekanntermaßen an der ältesten erhaltenen urkundlichen Erwähnung und nicht an den nur sehr grob zu datierenden Bodenfunden.
Aber auch damit ist es nicht so ganz einfach. „Himmelsthür“ tritt namentlich erstmals im Zusammenhang mit dem Bau des Hildesheimer Michaelisklosters durch Bischof Bernward von Hildesheim in Erscheinung. Aus dem Jahr 1022 sind drei Urkunden überliefert, in denen es um die Besitzverhältnisse des Klosters kurz vor Bernwards Tod geht. Sie unterscheiden sich deutlich voneinander im Umfang der Besitzverzeichnisse, in denen viele Orte in der näheren Umgebung Hildesheims und auch darüber hinaus genannt werden. Das ist auch der Grund, warum es in diesem Jahr so viele 1000-Jahr-Feiern in anderen Orten der Umgebung gibt. Man geht heute aber davon aus, dass es sich bei zwei Urkunden um nachträgliche Fälschungen handelt, die zurückdatiert worden sind. Himmelsthür taucht zum Glück in der für echt gehaltenen Urkunde Kaiser Heinrichs II. auf. Damit gilt die Ersterwähnung im Jahr 1022 als gesichert.
Trotzdem ist die Frage, warum und was wir eigentlich an diesem Wochenende feiern, durchaus berechtigt. Dass es um mehr geht, als es nach den Entbehrungen der Corona-Pandemie nun mal wieder richtig krachen zu lassen, liegt auf der Hand. Mir wäre das jedenfalls zu wenig.
Wenn wir schon das Glück haben, ein so außergewöhnliches Jubiläum mitzuerleben, dann dürfen wir dieses nicht einfach verstreichen lassen. Denn Jubiläen sind ein Anlass, den Blick sowohl in die Vergangenheit zu richten, um sich der Geschichte zu vergewissern, als auch in die Zukunft, um aus den Erfahrungen heraus neue Akzente zu setzen. Wir dürfen auf die Wurzeln schauen, von denen wir herkommen; auf die Geschichte unserer Vorfahren. Und wir dürfen uns fragen, was wir aus dieser Geschichte mitnehmen und lernen können, um unser Heute und Morgen gut gestalten zu können.
Aus diesem Grund hat der Ortsrat am Anfang des Jahres zusammen mit der Redaktion unseres Ortsteilmagazins „Wir Himmelsthürer“ eine Festschrift herausgegeben, in der es vor allem um die Geschichte unseres Ortes geht. Die Grundschulen haben Projektwochen zum Thema „1000 Jahre Himmelsthür“ veranstaltet.
Dabei haben die Kinder gelernt, dass Kaiser Heinrich II. wahrscheinlich nie selbst in Himmelsthür war und Bischof Bernward wohl auch nicht, dass aber die Bauern, die hier im Mittelalter lebten, durch ihre Arbeit die Hildesheimer Kirchen und Klöster versorgt haben. Sie haben von Kriegen und Zerstörung gehört, aber auch von Wiederaufbau und Neubeginn, von reichen Hildesheimern, die hier stattliche Anwesen errichtet haben, vom Bau der Eisenbahnstrecke, der Gründung von Vereinen sowie der Entstehung sozialer Einrichtung. Und schließlich haben sie erfahren, wie Himmelsthür nach dem 2. Weltkrieg nach und nach gewachsen ist – zunächst durch die Aufnahme von Flüchtlingen und Vertriebenen – und parallel dazu auch alles, was so dazugehört: die Schulen, die Kirchen, die Kindergärten, die Geschäfte und Supermärkte, die Ärzte, das Hallenbad usw.
Das sind Schlaglichter aus 1000 Jahren Himmelsthürer Geschichte – ohne jeglichen Anspruch auf Vollständigkeit.
In erster Linie ist aber die mehr als 1000-jährige Geschichte Himmelsthürs die Geschichte seiner Menschen mit ihren ganz eigenen Lebenswegen. Die einen haben ihr ganzes Leben hier verbracht, andere nur die Kindheit und Jugend, wieder andere hat es irgendwann hierher verschlagen. Die Antwort auf meine eingangs gestellte Frage, was wir eigentlich feiern, dürfte daher auch ganz unterschiedlich ausfallen. Denn sie beruht auf ganz unterschiedlichen, individuellen Erfahrungen.
Ich selbst erinnere mich noch gern an meinen Schulweg zur Martinus-Grundschule Ende der 70er Jahre, die damals noch im Schulgebäude in der Danziger Str. untergebracht war. Der „Hohe Turm“ war noch voller Geschäfte, allen voran dem Spielwarengeschäft von Frau Fröhlich mit dem tollen Schaufenster, der Drogerie Derfin, dem Modehaus Bürig, dem kleinen Supermarkt von Herrn Stannek und ganz am Ende dem Schlachter Huch. Wir konnten auf dem Rückweg von der Schule Panini-Bilder kaufen und, nachdem diese eingeklebt waren, „am Kreuz“ – das ist da, wo heute die Endstation Kokenhof ist – Fußball spielen, bis es dunkel wurde. Ich denke an die tollen Feste in der Turnhalle, die den Jahreslauf in Himmelsthür bestimmten: das Wintervergnügen der Chorgemeinschaft, die Faschingsparty TuMaFe des TuS GW oder den Martinsball der Martinusgemeinde. Und es fallen mir die vielen Gemeinschaftserlebnisse in der Pfarrgemeinde und beim TuS ein.
Das alles hat mich geprägt, daran erinnere ich mich gern. Und so wird jeder seine eigenen Gedanken haben, wenn es um Himmelsthür geht. So wird jeder an diesem Wochenende unter der Überschrift „1000 Jahre Himmelsthür“ etwas anderes feiern. Gemeinsam ist uns, dass wir all unsere Erfahrungen hier in diesem Ort gemacht haben.
Wenn ich selbst gefragt werde, was Himmelsthür ausmacht, was das Besondere ist, was mich fasziniert, dann antworte ich nicht mit den offensichtlichen Dingen: der guten Infrastruktur oder der wunderbaren Natur ringsherum. Ganz wesentlich ist für mich das, was man nicht sofort sieht: nämlich das Gemeinschaftsgefühl der Menschen, das
- nach der Zerstörung im 2. Weltkrieg Garant für den Wiederaufbau war.
- nie ausgrenzend, sondern immer einladend für Menschen war, die hierher kamen.
- das auch Menschen mit Behinderungen ganz selbstverständlich einschloss.
- in dem Traditionen gepflegt und tradiert wurden, aber auch neue Ideen entstanden.
Beispielhaft möchte ich hier die Jugendarbeit des TuS GW nennen, der in den letzten Jahren sportliche Heimat vieler aus den Krisengebieten der Welt geflohener Kinder geworden ist. Darauf können wir stolz sein, das können wir zurecht feiern.
Das alles wäre nicht möglich ohne das Engagement vieler, die sich auf ganz unterschiedliche Weise für Himmelsthür, d. h. für die Menschen, die hier leben, ehrenamtlich einsetzen. Das Jubiläum ist auch eine Gelegenheit, dafür einmal ganz herzlich „danke“ zu sagen.
In den letzten Jahren ist uns sehr deutlich vor Augen geführt worden, dass weder unsere Gesundheit noch unser Wohlstand selbstverständlich sind, dass unsere Umwelt bedroht ist. All das gefährdet auch den gesellschaftlichen Zusammenhalt. Wir stehen also vor großen Herausforderungen, wenn wir das alles in der Zukunft erhalten wollen. Unsere Vorfahren haben gezeigt, wie man wiederaufstehen und es gemeinsam schaffen kann. Es liegt an uns, es Ihnen gleichzutun.
Schließen möchte ich mit den Worten des Himmelsthürers Heinrich Ohlms, Mitglied der Chorgemeinschaft, der seinem verstorbenen Sangesbruder Franz Schmedt am 1. November 1945 – also etwa ein halbes Jahr nach Kriegsende – einen Lobgesang auf Himmelsthür gewidmet hat. Die 8. und letzte Strophe lautet:
„Zwar hat der Krieg dein Herz zerrissen,
getroffen dich mit hartem Schlag.
Dein Feierkleid ward nicht zerschlissen:
Noch treibt dein Feld, noch grünt dein Hag.
Noch grüßen deine sanften Höh’n
Noch klingt dein Bach, wie je, so schön.
Und deine Wälder starben nicht,
sie richten neu sich auf zum Licht.
Jetzt fühl‘ ich erst so recht in mir:
Wie ich dich lieb‘, mein Himmelsthür.“